Es ist soweit. Das letzte Konzert ist gesungen, die Gastchöre sind abgereist, und das Buffet löst sich auch endlich langsam auf. Zeit für mich, meine persönliche Bilanz zu ziehen und einige Gedanken vom Stapel zu lassen. Nicht nur über das Festival, sondern nach 10 Jahren (und 9, die ich schon dabei bin) auch darüber, was der Chor mir und anderen bedeutet. Sollte sich jemand nicht mit meinen Sichtweisen identifizieren können, so sei er (oder sie) sich versichert, nicht persönlich angegriffen worden zu sein. Eine so ereignisreiche und von hunderten Menschen geprägte Zeit ruft zwangsläufig unterschiedliche und gemischte Gefühle hervor.
Ich beginne einfach mal mit einigen Begebenheiten, die mir in Erinnerung bleiben werden.
(Die nicht kanonische Reihenfolge ist beabsichtigt)
- Robert fährt nach hause. Der monami-Schlüssel begleitet ihn.
- Debora Kapsners Gesicht beim Sopranversinger im Gottesdienst
- Herr Görings Motivationstaktiken
- Dänisches Dirigats-KungFu
- Roberts Handy ist stumm geschaltet und er ist nicht erreichbar.
- Frau Fischers Radsportenthusiasmus
- Zu hoher Kaffeekonsum hindert Vincent daran, die Kamera ruhig zu halten.
- Frau Fischer besorgt einen Zweitschlüssel vom monami-Chef.
- Dänische Haarmassen rocken die Weimarhalle
- Beim Buffet bleibt (wie immer) mal wieder viel zu viel Essen übrig
- Gastsänger beschweren sich über steile Berge und Stöckelschuhunfreundliches Pflaster
- Robert kehrt zurück und macht den Zweitschlüssel überflüssig.
- Vincent fragt Antonia: „Was kostest du?“
Vielleicht fällt mir noch das ein oder andere ein. Ergänzungen könnten also folgen (und das ist nicht nur ein Trick, um den Leser zur Rückkehr zum Blog zu zwingen. Das wär zwar schön, aber mein Gedächtnis ist wirklich schlecht)
Doch abseits von konkreten Ereignissen sind es vor allem die Gefühle und der Nachgeschmack, die beim Gedanken an dieses Wochenende aus meinem Unterbewusstsein aufsteigen. Wie aufgeregt und voller Vorfreude ich war, als ich vor einigen Monaten vom Projekt „Festival“ erfuhr. Wie begeistert ich war, als klar wurde, wie sehr unsere Mitarbeit als Chorsänger und auch hinter den Kulissen gewünscht und auch benötigt war. Und das sich nicht viel später einschleichende Gefühl, den tatsächlichen Aufwand unterschätzt zu haben.
Das hat in mir einen Konflikt ausgelöst. Schließlich kenne ich mich selbst gut genug, um zu wissen, dass ich nicht immer über die nötige Selbstbeherrschung verfüge, mich, wenn etwas schwerer wird als erwartet, trotzdem hinzusetzen und es einfach anzupacken. Grade im Vorfeld, wenn die eigentliche Arbeit noch ein paar Monate hin ist, gibt es bei jedem Mitwirkenden einen Moment der Selbsteinschätzung. Wo siehst du dich in einigen Monaten? Wird deine Begeisterung noch stark genug sein, um die Mühe auf dich zu nehmen? Wird dein Enthusiasmus deine Angst, mit einem Versäumnis das ganze Projekt ins Verderben zu stürzen, schließlich besiegen können, oder musst du die Notbremse ziehen?
Das Faszinierende daran ist, dass man sich all diese Fragen im entscheidenden Moment garnicht mehr stellt. Wenn man sich dann von der einen auf die andere Sekunde entscheiden muss, tut man instinktiv, was nötig ist. Mir erging es ungefähr so: Das Festival kam schneller als erwartet. Von einem Tag auf den anderen quoll mein digitaler Briefkasten über, hastiger Informationsaustausch folgte, und am Tag vor Festivalbeginn fand ich mich plötzlich in einem für unsere Verhältnis klassisch eingerichteten Dokuteambüro wieder: Technik und Kabelsalat, und dem grade noch ein Tisch zu erahnen ist. Und eh man sich zweimal drehen kann, rennen Leute um einen herum, von denen man grade mal ein Viertel kennt. Und ich mit meinem katastrophalen Personengedächtnis war erst recht aufgeschmissen. Wie gut, dass der Mann, der die Kamera hält, nur vielsagend mit selbiger herumwedeln und freundlich lächelnd „Ein kurzes Statement zum Wassermann?“ fragen muss, damit sich jeder anwesende angesprochen fühlt. Und dann vor der bösen Kamera flüchtet. Ich befürchte, wenn ich all diese Personen mit ihrem Namen ansprechen müsste, würde ich ziemlich schnell ein arges Problem bekommen.
Das in etwa ist auch der bleibendste Eindruck, den das Festival bei mir hinterlassen hat: So viele Menschen, völlig unbekannt und doch irgendwie vertraut. Das ist es, was Musik im Allgemeinen und eine musikalische Gemeinschaft wie einen Chor zu so einem faszinierenden sozialen Konstrukt macht. Völlig unterschiedliche Menschen wirken auf einmal, als würden sie schon immer zusammen gehören. Im Laufe der Jahre habe ich mich so oft mit meinen Mitsängern überworfen, und mindestens genauso oft schalte ich, sobald der Gesang losgeht, um, und sofort zählt für mich nicht mehr der Charakter der Person neben mir. Wichtig ist nur, was er (oder sie) in dem Moment tut, wie ich reagieren muss, um seine Schwächen und Stärken zu erkennen und mich daran anzupassen.
Im Idealfall führt das dazu, dass der ganze Chor zu eine homogenen Einheit verschmilzt, wie das riesige Gummibärchen, dass ich mal aus Spaß aus einem knappen Kilo normaler gebastelt habe (hatte schon was von Frankenstein, so gespannt vor der Mikrowelle zu hocken).
Dieser Moment, wenn wir zu einer Einheit werden, wenn nur noch die Musik zählt und alles andere warten kann, dieses Gefühl ist für mich schon immer unvergleichlich, der schönste Zustand, den ich kenne. Nur noch übertroffen durch Gummibärchen.
Übermorgen habe ich ein Vorstellungsgespräch, und wenn schließlich die obligatorische Frage „Was sind Ihre Stärken, was sind Ihre Schwächen?“ an meine Ohren dringt, weiß ich genau, wie ich darauf reagieren werde. Ich kann von so viel berichten, was meine 9 Jahre in diesem Chor mir beigebracht haben. Und darüber hinaus: Ich habe Freunde gewonnen, die mich bis heute begleiten. Ich habe emotionale Momente erlebt, glückliche, tragische, lustige, Ereignisse, an die ich mich immer erinnern werde.
Ich hatte kurz vorm Festival ein Gespräch mit zwei meiner Kollegen. Sie gehören zu der Sorte Mensch, die das Singen in einem Chor aus irgendeinem Grund für, ich zitiere, „uncool“ und „irgendwie lahm“ halten. Meine Gegenfrage lautete: „Findest du Fußball uncool? Ist es besser, 90 Minuten einem Ball hinterherzulaufen, anstatt einen Konzertsaal mit Musik zu füllen, die andere Menschen erfreut? Bei beidem geht es doch letztendlich um den Zusammenhalt in der Gemeinschaft.“
Darauf wusste er keine Antwort, und ich glaube, dass das Festival der beste Weg war, um diese Ungewissheit aus dem Weg zu räumen, in dem Wir anderen Leuten zeigen, worum es im Chor wirklich geht.
Ich habe jetzt schon einen gefühlten Roman geschrieben, und jetzt ist es Zeit, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren und mein persönliches Anliegen an den Mann zu bringen: mich zu bedanken. Bei Charlotte Lindig (ich hoffe, sie liest das hier vielleicht), die damals im Alter von 10 Jahren mit der einfachen Frage „Willst du bei uns mitsingen?“ mein Leben veränderte. Bei mir selbst, weil ich mit „Ja“ antwortete. Bei meinen Eltern, die mich moralisch und nicht zuletzt finanziell dabei unterstützten. Bei all den treuen Freunden, die ich hier gewonnen habe und die immer mit genauso viel Begeisterung hinter dem Chor und nicht zu selten auch hinter mir standen.
Und natürlich bei Frau Fischer selbst, die durch die Gründung des Chores all das erst möglich gemacht hat. Die ebenfalls bedingungslos hinter uns steht und sich zumindest äußerlich selten ein Zeichen des Zweifels leistet. Die uns trotz unsere Macken und Eigenheiten zu einer Einheit verschmolzen hat. Die eine Gemeinschaft geschaffen hat, die es mir ermöglichte, trotz der Veränderungen, die man in 9 Jahren auf dem Weg zum Erwachsenen durchläuft, mir selbst irgendwie treu zu bleiben. Es gab Zeiten, da mich diese Verankerung meines Wesenskerns auf Kurs gehalten hat, und so etwas vergisst man nicht mehr.
Ich bin sicher, dass es hier viele gibt, denen es ähnlich geht. All denen, und jedem, der das noch vor sich hat, gelten mein tiefer Dank und meine besten Wünsche für die Zukunft.
Max